Von der Inszenierung des Zufalls
2011, Katalogtext
Dr. Anne-Katrin Rossberg, Kunsthistorikerin
Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches… Das Natürliche… ist das Chaos.
(Arthur Schnitzler, Das weite Land, 1911)
Ordnung schaffen zu wollen, ist ein permanentes Anliegen der Kunst– besonders in Zeiten der Verunsicherung wie etwa im Fin de Siècle. Gleichsam als Antwort auf Schnitzler, suchen die Wiener Künstler und Architekten um 1900 die innere Unordnung durch eine neue äußere Ordnung wieder her zu stellen und finden eine Formensprache, die das Chaos im Raster bannt, in der Klarheit der Linie, der Glätte der Oberfläche. Das Künstliche ist notwendig, um dem Natürlichen Herr zu werden– wer möchte das verurteilen, vor allem, wenn so Kunstvolles dabei entsteht?
Etwa hundert Jahre später greift Sali Ölhafen dieses Zusammentreffen auf sehr subtile Weise auf. Ihre seit 1996 entstandenen Arbeiten zeigen einen kontinuierlichen Prozess, das Thema zu variieren und zu vertiefen. Ausgangspunkt ist ein zentrales abstraktes Motiv auf der Bildfläche, das von verschiedenen Schichten überlagert oder unterlegt wird. Sie verankern das Motiv in einem eigenen System und geben ihm Halt. Anfangs sind es ovale Formen, mit Wachsmalkreide gezeichnet und mit Acrylfarbe übermalt, so dass gleichzeitig Hinter- und Vordergrund entstehen (auf der Wachsschicht perlt die Farbe ab und bildet ein unregelmäßiges Muster).
Wenig später erscheint das Motiv zugleich konstruiert wie zufällig entstanden. Ein Farbfleck wird auf Papier oder Leinwand bewegt, fährt seine Fühler aus, verstrebt sich und malt Blütenblätter, Gestirne, Felsen oder Nester, Knäuel und Gespinste. Die Motive werden vor einen Vorhang aus herunter rinnender Farbe gestellt (credo in rot-gelb-blau), später mit Zeitungsschnitzeln zugepflastert, bedrängt und gleichsam entstellt; breite Pinselstriche legen zudem ein farbiges Streifenmuster darüber (drei felder rot-gelb-blau).
Den zuvor so sorgfältig modellierten Formen wird zugesetzt – es wird dicht auf der Bildfläche und scheinbar chaotisch. Die plötzliche Wildheit schreckt auch nicht vor Fußtritten zurück, die den Schuhabdruck als Stempel hinterlassen (netz). Schließlich werden die Bilder in Streifen geschnitten und neu sortiert verflochten, das zentrale Motiv wird dadurch zerlegt und breitet sich über die ganze Fläche aus, das Raster tritt in den Vordergrund (flechtwerk).
Die Weiterentwicklung dessen ist die Verwendung von Luftpolsterfolie– das Raster ist direkt Bildträger. Die Farbe sucht sich ihren Weg durch die Kanäle der Folie, wird in ihrem Lauf vom Zufall gelenkt. Manchmal wird beidseitig gearbeitet, auf der glatten Seite erscheint das zentrale Motiv, von der Rückseite leuchtet die Hintergrundfarbe durch. Gebrauchte Folien widersetzen sich dem Wunsch nach Ordnung und Perfektion, wie er zuvor mit Füßen getreten wurde.
Doch das zunehmend Wilde in den Bildern ist nie laut, nie gewalttätig. Es wird buchstäblich in Schach gehalten – auch durch die Farbsysteme, etwa das immer wieder kehrende „rot-gelb-blau“, das offenbar keine Angst macht. Und es wird abgemildert durch das sukzessiv leichter und transparenter werdende Material: zuerst Holz, dann Leinwand, Japanpapier, schließlich Folie.
Zuletzt hat Sali Ölhafen die zentralen Motive ausgeschnitten und vor die Wand gehängt. Ihre Bewegungen erzeugen ein Schattenspiel, das den zufälligen Moment der erstarrten Form neu deutet. Das heißt, aus dem Chaos wird eine Ordnung gewonnen, die Verwandlung zulässt.